Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) erkannte ihr lediglich den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu, da es keine Verfolgung meiner Mandantin erkennen konnte.
In der dagegen erhobenen Beschwerde und im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) brachte meine Mandantin vor, dass sie ein freies und selbstbestimmtes Leben führen wolle, das ihr als Frau in Afghanistan verwehrt wäre. Überhaupt sei die Lage in Afghanistan für Frauen derart schlecht, dass allein deshalb schon – ohne Hinzutreten weiterer Umstände wie z.B. einer selbstbestimmten Lebensweise – von Verfolgung auszugehen sei.
Im August 2021 erfolgte dann die vollständige Machtübernahme der Taliban, wodurch Frauen ihre bis dahin ohnehin kaum vorhandene Freiheit vollständig verloren. Ihnen wurden noch massivere Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit sowie im Zugang zu Bildung, Arbeit, medizinischer Versorgung, politischer Teilhabe, Sport und im Schutz vor Gewalt auferlegt. Zudem wurde etwa die Registrierung unverheirateter Mädchen ab 12 Jahren zum Zwecke ihrer Zwangsverheiratung und die vollständige Verhüllung ihrer Körper und ihres Gesichter vorgesehen.
Das BVwG wies die Beschwerde meiner Mandantin mit Erkenntnis vom Dezember 2021 dennoch als unbegründet ab und zog dafür zunächst die absurde Begründung heran, dass meine Mandantin keine Fluchtgründe betreffend Afghanistan geltend gemacht hätte. Außerdem habe sie keine „westliche Lebensführung“ angenommen und keinen nachhaltigen Bruch mit den gesellschaftlichen Werten Afghanistans vorgenommen. Für das BVwG gebe es zudem keine ausreichenden Hinweise, dass alle afghanischen Frauen allein aufgrund ihres Geschlechts in Afghanistan Verfolgung ausgesetzt wären.
Gegen diese Entscheidung erhob ich für meine Mandantin schließlich das Rechtsmittel der außerordentlichen Revision, infolge welcher der VwGH dem EuGH mit Beschluss vom 14.09.2022 (EU 2022/0017-1 bzw. Ra 2022/20/0028) zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorlegte.
Diese Fragen beantwortete der EuGH mit Urteil vom 04.10.2024 in den Rechtssachen C-608/22 und C-608/22 dahingehend, dass einerseits unter den Begriff „Verfolgungshandlung“ eine Kumulierung von frauendiskriminierenden Maßnahmen wie die oben beschriebenen falle und andererseits die zuständige nationale Behörde in diesem Zusammenhang nicht verpflichtet sei, bei der Prüfung eines Antrags andere persönliche Umstände als das Geschlecht und die Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen. Dabei nahm der EuGH u.a. auch auf eine Erklärung des UNHCR Bezug, wonach bei afghanischen Frauen und Mädchen wegen der von den Taliban allein aufgrund ihres Geschlechts gegen sie begangenen Verfolgungshandlungen die Vermutung einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bestehe. „Unter diesen Umständen“, so der EuGH, „können die zuständigen nationalen Behörden bei Anträgen auf internationalen Schutz, die von Frauen, die Staatsangehörige von Afghanistan sind, gestellt werden, davon ausgehen, dass es derzeit nicht erforderlich ist, bei der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin auf internationalen Schutz festzustellen, dass diese bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, sofern die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage wie ihre Staatsangehörigkeit oder ihr Geschlecht erwiesen sind.“
Infolge dieses Urteils hob der VwGH nun die für meine Mandantin bekämpfte Entscheidung des BVwG mit Erkenntnis vom 23.10.2024, zugestellt am 05.11.2021, wegen Rechtswidrigkeit auf:
„Es ist nun entsprechend der Ausführungen des EuGH im Urteil vom 4. Oktober 2024, C-608/22 und C-609/22, im Fall einer Situation, wie sie in der oben wiedergegebenen Vorlagefrage 1. (sowie im Spruchpunkt 1. des Urteilstenors) geschildert wird, bereits deshalb von Verfolgungshandlungen gegen afghanische Frauen auszugehen, weil diese Maßnahmen aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu führen, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden, und diese Maßnahmen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation zeugen, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird.
Es ist mithin nicht erforderlich zu prüfen, ob die Asylwerberin eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ aufweist, weil es angesichts dessen, dass im Herkunftsstaat eine Situation gegeben ist, die in ihrer Gesamtheit Frauen zwingt, dort ein Leben führen zu müssen, das mit der Menschenwürde unvereinbar ist, darauf nicht ankommt. Es ist vielmehr zur Bejahung einer Verfolgungshandlung im Einzelfall grundsätzlich bereits ausreichend, dass es eine Frau ablehnt, in einer Gesellschaft leben und sich Einschränkungen beugen zu müssen, in der die die Staatsgewalt ausübenden Akteure solche sanktionsbewehrten Regelungen aufstellen und Maßnahmen ergreifen (wie die in der oben wiedergegebenen Vorlagefrage 1. sowie des Spruchpunktes 1. des genannten Urteils des EuGH geschilderten), die in ihrer Gesamtheit die Menschenwürde durch die Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird, massiv beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht darauf an, ob eine Asylwerberin diesen Regelungen im Fall eines Aufenthaltes im Herkunftsstaat tatsächlich zuwiderhandeln oder sie sich angesichts der ihr im Fall des Zuwiderhandelns drohenden Konsequenzen diesen Regelungen fügen würde.
Es ist grundsätzlich für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ausreichend, im Rahmen der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin, die es ablehnt, sich einer solchen wie der hier in Rede stehenden Situation auszusetzen, und die daher um die Gewährung von Flüchtlingsschutz ansucht, festzustellen, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland, in dem solche Verhältnisse herrschen, tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, wenn die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage, die ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geschlecht betreffen, erwiesen sind.
Jedoch ist, wenngleich es im Regelfall weitergehender Feststellungen nicht bedürfen wird, diese Prüfung im Einzelfall – in den Worten des EuGH – „mit Wachsamkeit und Vorsicht“ vorzunehmen.
Ergibt sich anhand der sich der Behörde sonst darbietenden Umstände des Einzelfalles, dass Gründe zur Annahme vorhanden sind, dass fallbezogen ein Bedürfnis nach Flüchtlingsschutz nicht besteht und die Antragstellung lediglich aus anderen (asylfremden) Motiven erfolgt ist, wird es bei der Prüfung, ob der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen ist, nicht sein Bewenden haben können, sich bloß auf die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat sowie der Staatsangehörigkeit und des Geschlechts der Asylwerberin zu beschränken (etwa wenn Hinweise dafür bestehen, dass eine Asylwerberin Teil einer Organisation ist, von der die die Menschenwürde massiv beeinträchtigenden einschränkenden Maßnahmen ausgehen).
Was nun den Fall der Revisionswerberin betrifft, in dem nach dem bisherigen Erhebungsstand keine Hinweise dafür vorliegen, dass die Antragstellung aus asylfremden Motiven erfolgt wäre (oder ein Ausschlussgrund vorliegen würde), ergibt sich aus dem Gesagten, dass es das Bundesverwaltungsgericht in Verkennung der Rechtslage unterlassen hat, sich mit jenem Vorbringen der Revisionswerberin in der vom Gesetz geforderten Weise auseinanderzusetzen, wonach sie in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit schon wegen der ihr als Frau von den faktisch die Staatsmacht ausübenden Taliban auferlegten Einschränkungen asylrechtlich relevante Verfolgung zu befürchten habe.
Infolgedessen hat das Bundesverwaltungsgericht auch keine umfänglichen Feststellungen – im Besonderen zur von den Taliban geschaffenen und in Afghanistan herrschenden Situation für Frauen – getroffen, um eine dem Gesetz entsprechende Beurteilung zu ermöglichen. Das wird das Bundesverwaltungsgericht nachzuholen haben (soweit es die Situation in Afghanistan betrifft anhand aktueller Quellen, vgl. dazu – bloß beispielsweise – aus jüngerer Zeit den vom deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, herausgegebenen „Länderreport 73 Afghanistan – Die Situation von Frauen, 1996 – 2024, Stand: 09/2024“, in dem im Rahmen der Schilderung der von Taliban seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan herbeigeführten Einschränkungen für Frauen auch berichtet wird, dass diese mit der im Juli 2024 erfolgten Veröffentlichung eines „Tugendgesetzes“ Frauen die Befolgung noch weiterer sie belastender Regelungen auferlegt hätten, wie – hier lediglich auszugsweise wiedergegeben – dass die Stimmen von Frauen „verborgen“ bleiben sollen und sie insbesondere nicht singen, nicht rezitieren und in der Öffentlichkeit nicht laut sprechen dürften; dass nicht verwandte Frauen und Männer einander nicht anschauen dürften; dass eine erwachsene Frau, wenn sie ihr Haus aus einem dringenden Grund verlässt, verpflichtet sei, ihre Stimme, ihr Gesicht und ihren Körper „zu verstecken“).
Sohin war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.“
(VwGH 23.10.2024, Ra 2022/20/0028, noch nicht im RIS, Hervorhebungen durch mich)