Anlass für diese Entscheidung des EuGH waren zwei Fälle aus Österreich, wobei eine der betroffenen Frauen von mir vertreten wird. Meine Mandantin hatte in ihrem Verfahren vorgebracht, in Afghanistan verfolgt zu werden, weil sie eine Frau sei. Sie wolle nicht unter Frauen dermaßen entrechtenden Maßnahmen leben. Die Behörde und das in der Folge zur Entscheidung berufene Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vermeinten, keine Anhaltspunkte für allen Frauen in Afghanistan allein aufgrund ihres Geschlechts drohende Verfolgung zu erkennen. In der für meine Mandantin gegen die Entscheidung des BVwG erhobenen Revision an den Verwaltungsgerichtshof (VwGH) brachten wir u.a. vor, dass es für die Feststellung von Verfolgung unter den gegenwärtigen extremen Umständen in Afghanistan ausreiche, eine Frau zu sein und ihr als Frau allein aufgrund der nach der Machtübernahme durch die Taliban herrschenden Situation von Frauen der Status der Asylberechtigten hätte zuerkannt werden müssen.
Der VwGH legte in der Folge dem EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung vor (vgl. Beschluss vom 14.09.2022, Ra 2022/20/0028).
So sollte der EuGH klären,
1. ob die Kumulierung von gegen Frauen getroffenen Maßnahmen (Verwehrung von politischer Teilhabe, kein Rechtsschutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, kein effektiver Schutz vor Zwangsverheiratungen, Einschränkungen im Zugang zu Erwerbstätigkeit, Gesundheitseinrichtungen, Bildung, der Ausübung von Sport und der Bewegungsfreiheit sowie Verpflichtung zur Verhüllung) als Verfolgungshandlung anzusehen ist, und
2. ob es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigung ausreicht, dass eine Frau von diesen Maßnahmen in ihrem Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist oder ob (weiterhin) eine Prüfung ihrer individuellen Situation iZm der von ihr verinnerlichten Lebensweise erforderlich ist.
In seinem Urteil vom 04.10.2024 in den Rechtssachen C-608/22 und C-609/22 entscheid der EuGH über die beiden vorgelegten Fragen nun, dass
1. Art. 9 Abs. 1 lit. b der Status-RL dahingehend auszulegen ist, unter den Begriff „Verfolgungshandlung“ eine Kumulierung von Frauen diskriminierenden Maßnahmen fällt, die von einem „Akteur, von dem Verfolgung ausgeht“, im Sinne von Art. 6 dieser Richtlinie getroffen oder geduldet werden und insbesondere im Fehlen jedes rechtlichen Schutzes vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sowie Zwangsverheiratungen, der Verpflichtung, ihren Körper vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen, der Beschränkung des Zugangs zu Gesundheitseinrichtungen sowie der Bewegungsfreiheit, dem Verbot oder der Beschränkung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit, der Verwehrung des Zugangs zu Bildung, dem Verbot, Sport auszuüben, und der Verwehrung der Teilhabe am politischen Leben bestehen, da diese Maßnahmen durch ihre kumulative Wirkung die durch Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistete Wahrung der Menschenwürde beeinträchtigen.
2. Art. 4 Abs. 3 der Status-RL dahingehend auszulegen ist, dass er die zuständige nationale Behörde nicht verpflichtet, bei der Feststellung, ob angesichts der im Herkunftsland einer Frau zum Zeitpunkt der Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz vorherrschenden Bedingungen diskriminierende Maßnahmen, denen sie in diesem Land ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie darstellen, im Rahmen der individuellen Prüfung dieses Antrags im Sinne von Art. 2 Buchst. h dieser Richtlinie andere Aspekte ihrer persönlichen Umstände als ihr Geschlecht oder ihre Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen.